Tierretter.de hat im September 2019 Filmmaterial veröffentlicht, welches dem Verein von Tierrechtsaktivist*innen zugespielt wurde. Die Aufnahmen zeigten die Zustände in vier Schweinemastbetrieben aus dem Kreis Steinfurt. Alle Informationen zu dieser Veröffentlichung finden Sie hier.
Alle vier Betriebe wurden von tierretter.de wegen Tierquälerei angezeigt. Unseres Wissens nach hat auch das Veterinäramt Steinfurt zusätzlich Anzeige gegen mehrere Betriebe erstattet. Am 03.07.2020 kam es am Amtsgericht Rheine zu einem Prozess gegen einen der betroffenen Schweinemäster aus Emsdetten. Der Betriebsleiter selbst war nicht vor Ort, um sich zu den Zuständen auf seinem Hof zu äußern oder sich zu verteidigen, sodass die Richterin schnell zu einem Urteil aufgrund von deutlichen Verstößen gegen das Tierschutzgesetz sowie der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung kommen konnte.
Das Urteil lautet 40 Tagessätze von 80€, insgesamt also 3.200€. Zudem muss der Angeklagte die Kosten des Verfahrens tragen. Er hat allerdings noch die Möglichkeit gegen das Urteil vorzugehen.
Warum wurde Anzeige erstattet?
In besagtem Betrieb in Emsdetten zeigt das Videomaterial ein Schwein, das unfähig ist von selber wieder aufzustehen. Es scheint es in einer Bucht abgelegt zu sein. Der gesamte Stallbereich ist leer, nur dieses Schwein befindet sich noch dort. Dem Schwein läuft Schaum aus dem Mund, der Schwanz ist abgebissen und hat sich nekrotisches Gewebe gebildet. Das Tier ist offensichtlich schwerst verletzt.
Vermutlich wurde an diesem Tag oder in den Tagen davor, der Stallbereich „ausgestallt“ –alle Schweine wurden zum Schlachthof gefahren. Das verletzte Schwein wurde wahrscheinlich zurückgelassen, weil es nicht verladen werden konnte – es konnte schließlich nicht einmal mehr aus eigener Kraft aufstehen.
Die Behandlung von Schweinen bei Verletzungen ist selten kostendeckend für den Schweinemäster. Im besten Fall wird das Tier separiert, ggf. mit Schmerzmittel behandelt oder eine Antibiose verabreicht. Die Behandlung von Tieren in der industriellen Tierhaltung läuft stets nach dem Prinzip der Gewinnkalkulation. Ist die Behandlung zu teuer oder zu aufwendig, lohnt es sich nicht. Deswegen sterben reihenweise Schweine vorzeitig in Buchtengängen oder Krankenbuchten, obwohl ihr Leben in der Theorie „gerettet“ werden könnte. Die Formulierung „gerettet“ ist hier natürlich schlichtweg zynisch, denn gerettet wird nur der Gewinn des Mästers, wenn das Schwein im Schlachthaus getötet wird, anstatt im Buchtengang verreckt. Das Schwein stirbt in jedem Fall. Immer.
Tatsächlich heißt es im Fachjargon, dass die Nottötung in so einem Fall ‚auch aus Tierschutzsicht die einzige Möglichkeit ist und schnellstmöglich vorgenommen werden sollte‘, damit das Schwein nicht weiter und unnötig leiden muss. Das ist natürlich eine ebenfalls eine zynische Sichtweise, denn würde tatsächlich der Tierschutz in den Ställen irgendeine Rolle spielen, dann gäbe es diese Ställe gar nicht erst. Mehr noch: die Verletzungen der Tiere, die in Ställen notgetötet werden, sind direkt auch die schrecklichen Haltungsbedingungen zurückzuführen – dementsprechend ist es eine Farce, wenn Tierwirt*innen davon sprechen, dass es „normal ist, wenn immer ein paar kranke Tiere dabei sind“ und dann sogar noch Vergleiche zu wild lebenden Tieren und deren Sterberaten ziehen.
Denn natürlich ist es normal und vollkommen logisch, dass Tiere unter solchen unhygienischen und schrecklichen Bedingungen krank werden. Das macht es halt nur nicht moralisch weniger falsch oder rechtfertig jene schlimmste Verletzungen, welche die Tiere erleiden müssen. Solche bewusst täuschenden Relativierungen zeigen umso mehr, wie wenig Tiere in der Landwirtschaft zählen. Nämlich nur soviel, wie mit Ihnen Profit erwirtschaftet werden kann.
Die schrecklichen Haltungsbedingungen in Tierställen sind durch Gesetze legitimiert. Tierquälerei ist in Deutschland komplett legal. Illegal in diesem Fall ist wahrscheinlich nur die nicht zeitnah erfolgte Nottötung des Schweins, diese wurde auch durch tierretter.de angezeigt. Natürlich ist der Bauer auch direkt für das Entstehen der Verletzungen verantwortlich, das ist in Deutschland aber nicht illegal, sondern wird sogar als „höchste Tierschutzstandards“ von Lobby, Politik und Wirtschaft geadelt.
Was bedeutet das Urteil?
Der Strafbefehl lautet vorerst 3.200€ für den Schweinemäster. Ist das gerecht? Der Urteilsspruch und auch das Tierschutzgesetzt greift die Formulierung des „unnötigen Leidens“ auf, denn das ist es, weswegen er verurteilt wurde. Die Haltung von Schweinen unter schlimmsten tierquälerischen Bedingungen ist deshalb in Deutschland legal, weil unsere Gesellschaft es als absolut notwendig ansieht, denn wir möchten ja die toten Körper dieser geschundenen Tiere essen. Gesellschaftlich scheint nur Tierquälerei zu sein, wenn ein Tier „unnötig“ leiden muss. Was in diesem Fall nun sogar richterlich bestätigt wurde. Und deshalb ist dieser Schweinemäster nun ganz offiziell auch ein verurteilter Tierquäler.
Die Definition von „unnötig“, ist derweil so flexibel wie ein Gummiband. Wenn man davon spricht, dass ja im Grunde jeder Tierwirt und tierhaltende Bäuerin eine Tierquäler*in ist – so reagiert nicht nur die Agrarlobby empört. Spätestens jeder bewusste Konsument und jede „Ich kaufe nur beim Bauern nebenan“ Verfechterin sieht sich gezwungen, die tierhaltende Landwirtschaft zu verteidigen. „Es sind ja nicht alle so, das sind schwarze Schafe“. Dabei ist das Problem ein viel grundlegenderes. Es geht überhaupt nicht um die Zustände in den Betrieben, es geht um den bereits erwähnten Begriff des „unnötigen Leidens“.
Dabei ist die Argumentation im Grunde einfach: Würde man einen Hund aus reinem Spaß in einen Käfig sperren, der kaum größer als das Tier ist und würde man einem anderen Tier einfach mal so die Hoden abschneiden. Dann wäre die Gesellschaft sich einig, dass dies schlimme Tierquälerei ist. Geschieht dies aber um damit Geld zu verdienen, so wie es bei Schweinen der Fall ist und weil Menschen die Körper der geschundenen Tiere danach genüsslich verzehren möchte, dann ist dies mitnichten Tierquälerei, sondern „dann schmeckt es halt einfach!“. Die Konsequenzen, die Leiden, der Schmerz für das Tier sind gleich, nur die Bewertung durch den Menschen ist eine andere.
Die Begriffe „unnötiges Leiden“ und eben auch Tierquälerei sind daher immer Kontextabhängig. Und der Kontext wird durch unsere Gesellschaft geprägt. Deswegen reagieren Tierwirt*innen auch immer besonders empört, wenn sie pauschal als Tierquäler*innen bezeichnet werden. Ihnen fehlt schlichtweg die Perspektive und offensichtlich auch der Willen, nur für einen kurzen Moment den Sachverhalt aus der Sicht des Tiers zu betrachten oder eben die Position von Aktiven nach zu vollziehen, die sich konsequent für die Rechte von Tieren einsetzen.
Das Urteil bekräftig gängige Ausbeutungsrelativierungen
Die Tatsache, dass dieser Fall verurteilt wurde und somit als „unnötiges Leiden“ gekennzeichnet wurde, könnte nun also als Erfolg gewertet werden. Betrachtet man das große Ganze, rechtfertig die Verurteilung nur umso mehr die menschliche Kontextualisierung von Leiden und ist so gesehen das Gegenteil von dem, was die Tierrechtsbewegung erreichen möchte. Denn während das Leiden dieses eines Schweins als besonders schlimm gewertet wurde und sogar verurteilt wurde, leiden 55 Millionen Schweine ebenso … nur wird das nie verurteilt, obwohl es genauso unnötig ist, Tiere für die Nahrungsmittelproduktion zu mästen und zu töten. Natürlich kann das sterbende Schwein, dass dem Schweinemäste schlichtweg egal war, da er es in der Bucht verrecken ließ als eine Spitze der Gewalt gesehen werden, aber unnötig ist alles, was in der Schweinemast passiert.
Das Urteil zieht somit eine klare Grenze zwischen vermeintlich nötigen Leiden, damit die Menschheit Fleisch essen kann. Dabei ist es ja genau diese Grenze, die eine Tierrechtsbewegung versucht aus den Köpfen der Menschen zu entfernen. Nicht die menschliche Sichtweise auf die „Notwendigkeit“ sollte als moralischer Kompass bei Fragen gelten, die Tiere und deren Rechte betreffen. Wir brauchen eine Sichtweise, die konsequent die Bedürfnisse, den Lebenswillen, die Individualität und das Grundrecht auf Leben der Tiere in den Mittelpunkt stellt.
Sollte der Betrieb deshalb nicht angezeigt werden?
Aus einer konsequenten Tierrechtsperspektive ist die Frage, wie man mit solchem Bildmaterial umgeht, dass klare Straftaten zeigt, somit oft schwierig. Denn moralisch falsch ist alles was auf dem Videomaterial zu sehen ist. Angezeigt werden, um es juristisch verfolgen zu lassen, können nur einige Gewaltspitzen, deren Verurteilung, wie oben erläutert, bestehende Ausbeutungsmechanismen sogar zementieren könnten. Egal wie viele Betriebe so ins Licht der Öffentlich rücken, die Erzählung der vermeintlich schwarzen Schafe wird wohl immer in einigen Köpfen der Menschen bestehen bleiben. Schlimmer noch, die Nachrichten über Verurteilungen, Tierhalteverbote, Betriebsschließungen erzählen immer mit: „Wenn doch nur Gesetze eingehalten werden würden, dann wäre alles OK in diesen Ställen!“ Dabei sind das, was die Tierrechtsbewegung anprangern sollte nicht die Gesetzesübertretungen … sondern das Tierschutzgesetz an sich, dass die verquere Einteilung in unnötiges Leiden und im Gegenzug dann auch nötiges Leiden erst möglich macht.
Und so bleibt nur auch diese Anzeigen in einen klaren Kontext zu setzen und den Sachverhalt zu erklären. Der Kampf für konsequente Tierrechte darf nicht zu einer „Law & Order“ – Mentalität verkommen, es darf nicht um die Straftaten gehen … es muss um Grundsatzfragen gehen. Bei Strafanzeigen gegen tierausbeutende Betriebe darf es nicht um Rache oder Genugtuung gehen. Vor allem aber darf man nicht dem Irrtum auflaufen, dass es tatsächlich um Gerechtigkeit geht, wenn ein Betrieb verurteilt wird. Denn gerecht kann ein System, dass die Notwendigkeit von Leiden am menschlichen Nutzen festmacht niemals sein.
Was bleibt?
Tatsächlich kann das Urteil trotzdem als ein Indikator für einen Fortschritt gewertet werden. Denn während vor einigen Jahren solche Anzeigen stets komplett ins Leere liefen oder die Strafen marginal waren, so ist doch in den letzten Jahren gewissermaßen ein „Trend“ zu beobachten, dass es immer öfter zu Verfahren und Verurteilungen kommt. Das heißt, dass zwangläufig auch das Thema Tiere und welche Rechte Tiere bekommen sollten, diskutiert wird. Das zeigt, dass das Nischenthema „Tierschutz“ sich auf lange Sicht zu einer gesellschaftlichen Grundsatzfrage entwickeln kann, bei der es irgendwann nicht mehr um bessere Bedingungen in der Tierhaltung geht, sondern um die Frage ob Tierhaltung überhaupt notwendig ist. Nicht das Urteil an sich ist der Erfolg, sondern die Tatsache, dass es überhaupt Beachtung gefunden hat.